Im Abschnitt
“Anzeichen für eine LRS oder RS
Anzeichen für Lernschwierigkeiten bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern”
habe ich dargestellt, was Hinweise sein können, dass eine der beiden Schwierigkeiten vorhanden ist. Diese sind unabhängig von Mehrsprachigkeit zu betrachten.
In meinem lerntherapeutischen Alltag arbeite ich vornehmlich mit Kindern und Familien, die mehrsprachig sind. Immer wieder kommen verschiedene Fragen bezogen auf die langanhaltenden Lernschwierigkeiten und mehrsprachig aufwachsenden Kinder.
Da dies ein großes Thema ist, das ich nur kurz anschneiden kann, möchte ich einen Rahmen setzen.
In der Fachwelt gibt es unterschiedliche Begrifflichkeiten für mehrsprachig aufwachsende Kinder. Ich werde im Folgenden ausschließlich von mehrsprachig aufwachsenden Kindern sprechen. Ich meine damit alle Kinder, die zuhause nicht oder nicht ausschließlich die jeweilige Landessprache sprechen.
Im Umfeld von Mehrsprachigkeit tauchen sofort noch weitere Themen auf:
Migrationshintergrund, Expat, Auswanderer und damit auch sozialer Herkunft und gesellschaftlicher Status sowie Hierarchien von Sprachen.
Es gibt noch sehr viel mehr. Dies sind jeweils eigene große Fachbereiche, auf die ich nicht näher eingehen werde.
Studien zeigen, dass Mehrsprachigkeit nicht ausschlaggebend für das Entwickeln von langanhaltenden Lernschwierigkeiten ist. Mehrsprachigkeit verursacht auch keine Sprachstörung oder LRS im medizinischen-psychologischen Sinne.
Dr. Mohini Lokhande | Mehrsprachigkeit und Bildungschancen von Kindern mit Migrationshintergrund
Mohini Lokhande, Mitglied des Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, (2016) führt in ihrer Arbeit
“Doppelt benachteiligt. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem.”
aus, dass
“die geringeren Bildungschancen dieser [mehrsprachig] Kinder und Jugendlichen lassen sich zu einem großen Teil durch die soziale Herkunft erklären, also den Bildungsabschluss der Eltern oder ihren gesellschaftlichen Status.”
Lokhande findet weiter heraus, dass
“bei vergleichbarer sozialer Herkunft, gleichen Kompetenzen und Bewertungen durch die Lehrer besuchen sie [mehrsprachig Aufwachsende] mit höherer Wahrscheinlichkeit ein Gymnasium als ihre Mitschüler ohne Migrationshintergrund.”
Lenhard und Lenhard (2017) tragen in ihrer Arbeit folgendes zusammen: Mehrsprachiges Aufwachsen hat auf einige kognitive Leistungen durchaus positive Auswirkungen, z. B. auf zentral-exekutive Funktionen, Arbeitsgedächtniskapazität, metalinguistische Bewusstheit und Symbolverständnis. Außerdem besteht erhöhte Resilienz gegenüber einem Altersabbau kognitiver Leistungen. Eine Ursache hierfür liegt vermutlich darin, dass ständig dynamisch zwischen verschiedenen Sprachsystemen gewechselt werden muss, was zu einem erhöhten Training der betreffenden kognitiven Funktionen führt.
Die Aufmerksamkeitslenkung zum Beispiel ist viel besser geschult als bei einsprachig Aufwachsenden. Denn diese Kinder müssen die ganze Zeit damit umgehen, dass sie mehrere aktive Sprachen haben und jeweils immer eine Sprache unterdrücken müssen.
Mehrsprachigkeit und Lernvoraussetzungen: Übersehene Herausforderungen
In meinem Alltag erlebe ich sehr häufig, dass schneller gesagt wird, die auftretenden Lernschwierigkeiten liegen allein an fehlenden sprachlichen Fähigkeiten.
Deshalb werden Lücken in den Lernvoraussetzungen leicht übersehen, da mehrsprachige Menschen häufig durch ihr vielfältiges sprachliches Repertoire und ihre ausgeprägten Fähigkeiten sehr gute Kompensationsstrategien entwickelt haben. Doch das Erlernen der Kulturtechniken erfordert bestimmte Lernvoraussetzungen und Fähigkeiten, um die Lernentwicklungsstufen nacheinander meistern zu können.
Mehrsprachige Kinder treffen im deutsche Bildungssystem auf ein System, dass Einsprachigkeit als Norm setzt und deshalb wird wenig im Unterricht auf die Ressourcen der Mehrsprachigkeit im Unterricht eingegangen. Nur sehr langsam öffnet sich das deutsche Bildungssystem der Mehrsprachigkeit.
Mehrsprachige Kinder treffen zum Beispiel auf die Methode “Schreibe wie du sprichst.” Das ist ein sehr schwieriger Ansatz, da mehrsprachige Kinder unterschiedliche Lauterfahrungen besitzen und außerdem die deutsche Schriftsprache nicht nach diesem Prinzip funktioniert.